From Hero to Zero

nopain-comicKOLUMNE Kamptal Express

An jenem wunderschönen Sonntag im September fiel mir das Aufstehen besonders leicht. Mit der „2RC Hero Rennradausfahrt“ stand mein absolutes Highlight als grausamer Touren-Guide am Programm …

Trotz Hitzewarnung rief ich eine 130 Kilometer lange und höhenmeterreiche Runde durch das Kamptal aus, auf welcher so viele Mitstreiter wie möglich zur Explosion gebracht werden sollten. Am vereinbarten Treffpunkt herrschte bereits hektisches Treiben: Räder wurden zusammengebaut, Trikots angezogen, Getränke gemixt und Tachometer zurückgesetzt. Nach dem Verlesen der sorgsam von mir ausgearbeiteten, sadistischen Ausfahrtsregeln kehrte nervöse Ruhe ein. Die Teilnehmer starrten auf die Vorbauten und klickten angespannt in ihre Pedale ein und wieder aus, ein und wieder aus … Kurz vor dem planmäßigen Start um 10 Uhr verschwand ein Kollege im Gebüsch. Leider überschnitt sich sein Hinweis, noch aufs Klo zu müssen, mit dem Stundenschlag der Ortskirche und meinem Schlachtruf „Foahr ma!“; so blieb ihm nur mehr, uns enttäuscht nachzublicken. Mit flottem Anfangstempo ging es in sauberer 2er-Formation den Manhartsberg empor. Mein Wattmesser zeigte 300 Watt. Als in einer unübersichtlichen Kehre ein Traktor überraschend aus dem Weingarten auf die Straße bog, wurde erstmals so richtig angedrückt. Über 400 Watt waren für die Fahrer nötig, um vorbeizukommen; ein Ding der Unmöglichkeit für die letzten drei. „Adieu!“, dachte ich mir bei 175 Puls und trieb die Gruppe weiter. Die anschließende rasante Abfahrt ins Tal blieb trotz standhafter Einhaltung der Idealline wider Erwarten ohne Verluste, von meiner herausgefallenen Trinkflasche einmal abgesehen.

RUSSISCHES ROULETTE
Sodann erblickten wir eine Puch Maxi am Horizont. Stante pede folgte die nächste Tempoverschärfung: 43 km/h zeigte mein Edge an, als wir uns bei starkem Gegenwind langsam, aber stetig zu dem Moped vorarbeiteten. Um die Geschwindigkeit weiter zu erhöhen, formierten wir uns zu einem belgischen Kreisel. Bei einem Puls jenseits von 180 und mit 48 km/h wurde daraus jedoch schnell russisches Roulette, das infolge eines Massensturzes weitere vier Teilnehmer kostete. Unsere seit dieser Selektion recht überschaubar gewordene Gruppe schob sich bei sengender Hitze auf schmalen Nebenstraßen ins nördliche Waldviertel. Das Tempo blieb, den immer häufigeren Schlaglöchern, Scherben und Gesteinsbrocken zum Trotz, ungebrochen hoch. Da Hindernisse und Gefahrenquellen von den Vorausfahrenden meinem Regelwerk zufolge nicht angezeigt werden durften, war es nur eine Frage der Zeit, bis ein lauter Knall samt Hilfeschrei durch das Peloton fuhr. „Ich habe einen Plaaaatten!“ rief einer der Athleten verzweifelt. „Wir fahren langsam weiter. Du holst uns schon ein“, heuchelte ich, während wir mit gefühlten 500 Watt in den nächsten Berg stachen. Der schmerzhafte 18% Teilabschnitt zog das Feld weit auseinander und provozierte reihenweise Stöhnen, Spucken und Ächzen. Mit der Zeit wurden die Geräusche immer leiser, bis sie irgendwann vollständig verhallten. Schließlich kam ich am Kulminationspunkt mit nur mehr fünf Teilnehmern an. Einer davon, im Gesicht von Salzkrusten entstellt, fuhr hastig auf gleiche Höhe und bat um einen Stopp an der nächsten Tankstelle: Er hätte Durst, müsse aufs Klo und ein leckerer Riegel käme gerade recht. Nach einer kurzen Auffrischung in puncto Ausfahrtsregeln (kein Anhalten, kein Klo, kein Schnorren von Riegel und Getränken) nahm der Jämmerliche entmutigt Tempo heraus und bog an der nächsten Kreuzung ab.

GRANDE FINALE
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich selbst schon zu kämpfen: Eine Trinkflasche verloren, die zweite leer getrunken, 35 Grad im Schatten und noch über 40 Kilometer zu fahren. Mein eigenes Regelkonstrukt wurde mir langsam, aber sicher zum Verhängnis. Ich spürte erste Anzeichen von Krämpfen. „Nur nichts anmerken lassen“, schoss es mir durch den Kopf. *ZIPP* – hatte ich schon den ersten Krampf in der rechten Wade, *ZAPP* – gleich darauf links. Während ich im Stechschritt in die Pedale trat, hörte ich hinter mir den hohlen Klang von stark beschleunigenden Hochprofilen. Das Finale war eröffnet. Die letzten Kilometer waren ein einziger Kampf ums Überleben. Es galt, eine Attacke nach der anderen zu parieren, während sich mein Körper beharrlich immer weiter zusammen krampfte. Wie durch ein Wunder kam ich trotz Schwindel und kaltem Schauer über den letzten Anstieg und hätte zur Rettung meiner Ehre nur mehr drei lausige Kilometer talwärts überstehen müssen. Doch das Schicksal lachte darüber, ließ mir den ultimativen Krampf in Beinen und Rumpf zuteil werden und katapultierte mich in der letzten Kehre hinaus in die Botanik. Da lag ich nun wie gelähmt – mit schmerzverzerrtem, salzverkrustetem Gesicht, Schaum vorm Mund, verkrampften und zitternden Extremitäten, ein Schuh noch immer im Pedal eingeklickt – und vermochte mich nicht zu bewegen. Glücklicherweise hatte mein Handy noch mehr Saft. Ich rief einen Kollegen an. Auf meine Bitte, mich schnell mit seinem Auto abzuholen, verwies er lapidar auf das fünfte Ausfahrtsgebot „Auf langsame Fahrer wird keine Rück- sicht genommen – wer abreisst, ist selbst dafür verantwortlich, wie er heimkommt“ und legte auf.

erschienen im TOUR Österreich Special 05-2013